Von der Übereinstimmung der vier geistigen Brüder
Einst wohnten der Vogel Rebhuhn, der Hase, der Affe und der Elefant zu viert in einem Walde. Jeder von ihnen war überzeugt, der Älteste zu sein, dem die anderen Ehrfurcht schulden. Deshalb trachteten sie durch Gedankenaustausch genau herauszufinden, wer wirklich der Älteste unter ihnen sei.
„Lasst es uns am mächtigen Stamme eines Pipalbaumes bestimmen“, sagte der Elefant, „ich entsinne mich, dass mein Körper einst gleich hoch gewesen ist wie die noch junge Krone dieses Baumes.“ Der Affe sagte: „Zur Zeit, als dieser Baum noch klein gewesen ist, war selbst mein Körper gleich hoch.“ Der Hase sagte: „Selbst ich schlürfte noch die Tautropfen, die ich so gerne habe, von dem Sprössling dieses Baumes, als er nur fünf Finger hoch gewesen ist.“ Der Vogel Rebhuhn sagte: „Dieser Sprössling konnte jedoch nur deshalb wachsen, weil ich selbst – von oben – den Samen dieses Baumes auf die Erde gestreut habe.“
Daraufhin musste der große Elefant einsehen, dass er jünger sei als die anderen
Danach sahen auch der Affe und der Hase ein, dass der Vogel Rebhuhn der Älteste unter ihnen ist und dass es dem richtigen Verhalten entspräche, dass die Jüngeren dem Älteren Ehrfurcht bezeugen, wie dies von Natur aus den Dingen innewohnt. Nur dadurch wirken die von den beseelten Wesen vollbrachten guten Taten wie das befruchtende Regenwasser auf die Scholle. Dadurch wird auf der Erde die Ernte zunehmen, das Glück gedeihen und Gnade, Ruhm und Reichtum blühen. Zu jener Zeit sagte ein alter Weiser und Seher: „Eben deshalb erläuterten der Elefant, der Affe, der Hase und der Vogel im Walde das Gebot und seine Früchte, wonach die Jüngeren den Älteren Ehrfurcht schulden.“
Ehrfurcht bedeutet Verehrung mit einhergehender Furcht
Und richtet sich immer an einen übermächtigen Adressaten, ob real oder fiktiv. Wir empfinden Ehrfurcht individuell, aber es gibt auch Dinge, die bei der Allgemeinheit das Gefühl auslösen, wie etwas der Besuch einer Kathedrale. Dieses Gefühl zu haben, wird oft als tugendhaft angesehen. Dem Wort an sich wohnt ein negativer Aspekt inne, es ist jedoch ein erhabenes Gefühl.
Quelle zur Fabel:
Tibetfabeln aus Perlen alttibetischer Literatur, Christine Olschak, Birkhäuser Verlag Basel und Stuttgart, 1967